Der erste Weihnachtsbaum

„Mal wieder typisch, Mutter,“ meinte Tochter 1.0.
Verstehe nicht, was sie meint.
Wir waren doch bloß los einen Weihnachtsbaum kaufen.

Ok, von vorne.
Der Weihnachtsbaumkauf ist bei mir immer so eine Sache.
Das ist Terminsache!
Kommste am 25.12., sind se alle wech!
Kommste am 1.12. gibt es entweder noch keine oder sie sind bis zum Fest nadelig.
Es bleibt also ein recht knappes Zeitfenster zum Kauf des grünen Weihnachtsaccessoires. Jedenfalls für die beruflich überstrapazierte alleinerziehende Doppelmutter.
Außerdem habe ich immer noch unseren aller-, allerschönsten Weihnachtsbaum in Erinnerung.

Wollt ihr die Geschichte hören?
Natürlich wollt ihr. Ist ja Weihnachten!
Wir schreiben das Jahr Anno 1999, sozusagen das letzte Weihnachtsfest im alten Jahrtausend (und wenn mir jetzt irgendein Oberklugscheißer mit halbseidenen, gegoogelten Lateinkenntnissen vorrechnet, dass es das vorletzte Fest im Jahrtausend ist, weil das Jahr 2000 noch zum Tausender dazu gehört … – dann darf er nicht mehr weiter lesen!!!!!).
Lovis, nebst damals noch Angetrautem hatte acht Wochen Power-Renovierung im neuen Haus hinter sich und wir waren platt wie die Flundern. D.h. Lovis war platt, ihr Ehemann hatte sich nach vier Wochen Fußbodenverlegen und Einbauschrank aufstellen mit einer Gürtelrose ins Krankenhaus gelegt und sie den Scheiß alleine machen lassen.

Mit bösem Blick musterte die Schwiegermutter, die Sklaventreiberin:
„Gürtelrose ist ein Zeichen von Überlastung!“ motzte sie und verlangte sofortige Schonung ihres einzigen Sohnes.
Jawohl!
Der Mann wurde die nächsten 10 Jahre geschont!
Der ist quasi so gut wie neu, falls jemand Bedarf hat!

Also, es war der 24. Dezember, besser bekannt als Heiligabend und wir beschlossen Weihnachten ausfallen zu lassen. Jedenfalls was die Deko angeht. Wir hatten es mit Müh und Not geschafft die Klamotten noch vor dem Fest von der alten Wohnung ins neue Haus zu bekommen, hockten noch mehr oder weniger auf Bananenkartons und unsere bis dato einzige Tochter war noch so klein:
Die merkt das gar nicht!
Das Kind weiß doch gar nicht was Weihnachtsbräuche sind.
24. Dezember, 10 Uhr morgens.
„Mama, wir haben ja noch gar keinen Weihnachtsbaum!“
Das Kind ist eineinhalb Jahre alt, wieso kann sie das Wort Weihnachtsbaum aussprechen und woher zum Teufel, weiß sie, was so etwas ist?
Sie hat die letzten acht Wochen im Auto oder zwischen Malereimern verbracht.
Woher weiß sie, dass es Menschen gibt, die sich zu Weihnachten Bäume in die Stuben stellen?

„Weihnachtsbaum? Haben wir nicht!“, stotterte ich.
„Weißt du, nicht alle Menschen haben einen Weihnachtsbaum.“
Mein Kind guckte mich mit ihren großen, braunen Augen an (waren die etwas wässriger als sonst?) und sprach die Worte, die mich mitten ins Mutterherz trafen:
„Oh, wie schade! Ich habe mich so auf den Baum gefreut!“
Für den Kloß, den ich jetzt im Hals hatte, hätte es Dynamit bedurft.
Dieses Kind, dass bis zum heutigen Tag kaum jemals einen Wunsch geäußert hat, die sich stets mit allem abfand, so wie es kam, dieses Kind wünschte sich sehnlichst einen Weihnachtsbaum und ich Rabenmutter hatte keinen.
Das durfte nicht sein!

„MANN!
Zieh dich an!

Wir gehen einen Baum kaufen!“

„Wie jetzt doch“, stammelte der, der geschont werden musste.
Kind in einen Schneeanzug gesteckt, habe ich erwähnt, dass es zu schneien begann, ich Mantel und Stiefel an, schon auf dem Weg zum Bauern gegenüber, der hier wochenlang Weihnachtsbäume verkaufte. Mein Mann trottete hinterher. Soviel hatte er in drei Jahren Ehe mit mir schon gelernt:

Widersprich ihr nicht!

Die Qual der Wahl entfiel!
Der Hof war leer!
„Ey hallo, wir haben den 24sten! Wieso hast du keine Bäume mehr, Bäuerlein?“
Ich sage euch Leute, das kommt alles von den Subventionen!
Faul werden sie davon, unsere Bauern!
Der Bauer schlurfte in die Scheune und holte das letzte Exemplar hervor.
Na bitte, geht doch!
Einen Baum hatten wir nun!
Blöderweise kippen diese Dinger um, wenn man keinen Ständer hat.
Den saublöden Witz meines Gatten „meinen kriegst du nicht“ , quittierte ich mit bitterbösem Blick.
„Schweig!“

Mittlerweile ging es auf 12 Uhr zu!
12 Uhr Heiligabend:
Es wurde ein bisschen knapp, um das Equipment für einen ordentlichen Weihnachtsbaum zu besorgen!
Alle Mann rein ins Auto, Kind, ein Rosinenbrötchen auf der Faust, aber bester Laune, den Baum hatten wir ja schon mal!
Dummerweise schickten sich aber alle Läden an, pünktlich Feierabend zu machen.
Und diese stinkend faulen Verkäufer waren auch nicht bereit, obwohl man sie hinter der Glastür sehen konnte, noch einmal die Tür zu öffnen.
Wir kamen uns ein bisschen vor wie Josef und Maria, die um Asyl baten, nur dass wir das Kind schon dabei hatten und von meiner Schwangerschaft mit Tochter 2.0 noch nix zu sehen war.
Endlich, kurz vor 13 Uhr, ein Riesenschild vor einem Möbelhaus:

Heute, für Sie, bis 13 Uhr geöffnet!

Rauf auf den Parkplatz, agentenreife Drehung!
Vor dem Eingang: Noch ein Ständer!
Ich schmiss mich drauf, den gebe ich nicht mehr her!

Deko?
Deko, Deko, Deko!
Die Verkäufer klapperten mit dem Schlüssel!
Wollten die nach Hause oder was?

„Lichterketten? Haben Sie Lichterketten?“
Her damit!
Er steht und er ist beleuchtet!
Was will man mehr!
„Wir schließen jetzt, wir wollen auch Heiligabend zu Hause verbringen!“
Egoistisches Pack!

Wir rekapitulieren:
Wir haben einen Baum,
wir haben einen Ständer
und eine Lichterkette!

Zu Hause angekommen wurde unsere Beute in Kombination gebracht!
Bisschen kahl ist er ja schon!
Kugeln, Lametta, hamma alles nicht!
Ich hatte noch kleine Holzfigürchen und die Weihnachtskekse von Oma lassen sich mit etwas Geschick auffädeln. Watte sieht, wenn man sie zerzupft aus wie Schnee. Hier war Phantasie gefragt!
Als unser Kunstwerk fertig war, haben wir die Lichterkette angezündet und unser Kind sprach die magischen Worte:

„Er ist wunderschön!
So einen schönen Baum hat keiner!“

Ich habe heute noch Pipi in den Augen, wenn ich dran denke!