Wie ihr ja wisst arbeite ich in einer Anstalt öffentlichen Rechts, auch Schule genannt. Die Renovierung und Instandhaltung jener Anstalt ist Sache der Stadt, was zur Folge hat, dass hier 25 Jahre gar nichts instand gehalten wurde.
Wenn Farbe an den Wänden jünger als 25 Jahre ist, dann wurden diese Klassen von Eltern in Eigenleistung gestrichen, die sich das Elend nicht mehr länger mit ansehen konnten.
Seit drei Jahren aber tut sich etwas in der Schule:
Das Zauberwort heißt energetische Maßnahmen, sprich, alles was der Einsparung der immer teurer werdenden Energie dient, wird bezuschusst.
Im Rahmen dieser Maßnahme haben wir sogar neue Fenster bekommen, die alten konnten nur noch mit Hilfe eines Fahrradschlosses notdürftig vor Einbruch gesichert werden. Der 5 cm große Spalt, der trotzdem blieb, wurde billigend in Kauf genommen.
Unsere neuen Fenster sind Hightech:
Wenn sie auf sind, fährt die Heizung automatisch runter.
Soweit, so umweltfreundlich.
Gott-sei-dank ist es bei uns noch nicht so weit wie in der Nachbarortschule, dort geht das Licht automatisch aus, sobald sich in den Räumen keiner mehr bewegt.
Spitze bei Klassenarbeiten: Schüler alle still – Licht aus!
Schüler müssen durch den Raum hampeln, um ihre Arbeit mit Beleuchtung fortsetzen zu können.
5 Minuten später: Licht wieder aus!
Ein Konzept gegen Bewegungsmangel!
Komm ich doch Anfang der Woche in die Klasse: Sibirien!
Kinder, lasst die Jacken an, da stimmt was mit der Heizung nicht!
Im Zuge der energetischen Renovierung wurden selbstverständlich auch Maßnahmen ergriffen, dass unqualifizierte Lehrpersonen nicht eigenmächtig die Heizung hoch oder runter fahren können. Nicht, dass sich diese Geizkragen auf Staatskosten hier am Vormittag einen warmen Pädagogenhintern gönnen.
Nein, das wird alles computergesteuert zentral geregelt.
Wenn Eisblumen an den Neufenstern entstehen, wendet der frierende Lehrkörper sich hoffnungsvoll an den freundlichen Hausmeister.
Wenn man Glück hat, kann er helfen.
Ich lass die Kinder also in Jacken und mach mich auf die Suche nach Charly, unserem Allroundtalent.
„Charly, musst du kommen. Ist a…kalt in der Klasse!“
„Kann nicht sein!“
„Kann doch sein!“
Charly versuchte gerade die maroden Konferenzraumstühle mit Winkeln und Schrauben in einigermaßen brauchbare Möbelstücke zu verwandeln. Lehrerstühle spielen bei Energieeinsparung keine Rolle, da ist Hausmeisterkreativität gefragt.
„Kann nicht sein!“ wiederholte er und fügte logisch hinzu, „hat sich noch keiner beschwert!“
„Kann auch nicht, Charly-lein, die Kinder hatten vorher Sport! Da war noch keiner in der Klasse! Glaub mir es ist fu… cold there!“
Charly betritt, Rohrzange im Anschlag, den Klassenraum.
Begeisterung bei den Schülern, endlich Aktion!
Jaaaa, computergesteuert schon, aber wenn man weiß, wo man den Engländer ansetzen muss, gluckert es in der Energiesparheizung!
Nun baute sich Charly vor mir auf, Engländer im Anschlag auf mich gerichtet.
„Ich war auf Fortbildung, ne?! Und die haben gesacht, datt 18,4 °C die optimale Temperatur zum Lernen ist. 18,4°C und nicht mehr! Da herrscht das perfekte Verhältnis für die Sauerstoffmoleküle. So is datt nämlich!“
Ich bin schwer beeindruckt – versuche, leiser mit den Zähnen zu klappern, friere aber trotzig weiter!
Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast!
Wer hat die Studie in Auftrag gegeben, nach der die optimale Klassenzimmertemperatur erforscht wurde?
Richtig!
Die Leute, die die Heizkosten in Schule bezahlen müssen.
Warum also so zaghaft?
18,4 °C?
Lächerlich!
Runter mit den Warmduscher-Temperaturen!
15 °C reichen für den deutschen Nachwuchs und für deutsche Lehrkörper sowieso!
Nur was uns abhärtet macht uns stark!
Und die Weicheier, die das nicht abkönnen, fallen der natürlichen Auslese zum Opfer!
Hart wie Kruppstahl … (wir erinnern uns).
Männer mit Rohrzangen in der Hand beeindrucken mich nicht.
Ich, die bekennende Wollsockenträgerin, widersprach also todesmutig:
„Charly, nie im Leben sind in der Bude hier 18,4 °C und somit optimale Sauerstoffmolekülbedingungen.“
Charly zeigte stumm auf ein in 3,50 m Höhe hängendes Thermostat.
Als wenn ICH das erkennen könnte.
Ich hätte ihm jetzt gerne die Geschichte von den chinesischen Seidenspinnerraupen-Züchterinnen erzählt, die nackig in die Gewächshäuser gehen um die Raumtemperatur zu prüfen. Diese Frauen messen perfekter als jedes Thermometer.
So sensibel sind wir Frauen nämlich, jawohl!
Ich fürchtete jedoch, dass durch den Hinweis auf unbekleidete Chinesinnen, Charlys männliche Phantasie in Wallung, seine eigene Körpertemperatur durch Testosteronanstieg erhöht würde, was in diesem Moment kontraproduktiv für meinen Plan der Erhöhung der Raumtemperatur wäre.
Ich gab mich fürs erste geschlagen, nicht ohne Plan im Hinterkopf.
Hinterlistig brachte ich am nächsten Tag mein eigenes Thermometer mit.
Selbes Spiel: Sibirien!
Mag ja sein, dass es vorschriftsmäßige 18,4 °C am Thermostat sind, aber mein Heimthermometer zeigte frische 17,5 °C.
Der einzige Weg das zu ändern … ?
Nein, nicht Charly!
Auch nicht meine heimische Rohrzange!
Nein, beim nächsten Elternabend (für den wird die Raumtemperatur übrigens auf muckelige 20 °C erhöht) werde ich fallen lassen, dass die armen Kinder doch bitte nicht zu wenig anhaben sollten, da es doch mitunter recht frisch in den Klassenräumen ist.
Wenn die Gefahr besteht, dass sich Kevin-Brandon in der Schule ein Schnüpfchen zuzieht und womöglich tagelang zu Hause bleibt, bin ich ganz sicher, dass sich die Erziehungsberechtigten dieses dynamischen Kindes vorsorglich für eine Erhöhung der Raumtemperatur stark machen werden.